Amtsgericht Mannheim
Schöffengericht.
68159 Mannheim, Bismarckstr. 14 (Schloß, Westflügel) Telefon: 0621/292-2293 Telefax: 0621/292-1792 Sprechzeiten: Montag ~ Donnerstag 09.00-11.30 Uhr u. 14.00-15.30 Uhr Freitag 09.00-11.30 Uhr
Geschäftsnummer: 3 Ls 310 Js 5518/02-AK 74/04
Im Namen des Volkes
Urteil
S t r a f s a c h e gegen den am 17.06.1963 in Heidelberg geborenen, in 68169 Mannheim, …… wohnhaften, ledigen deutschen Staatsangehörigen Michael …..F….. wegen Verdachts des Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz
Das Amtsgericht. Schöffengericht. Mannheim. SG 3 hat in der öffentlichen Sitzung vom 19. Januar 2005, an der teilgenommen haben: Richter am Amtsgericht K r e h b i e 1 als Vorsitzender R… E… G. A. als Schöffen Staatsanwältin Ruby-Wesemeyer als Beamtin der Staatsanwaltschaft Rechtsanwalt Wenzel, Hamburg als Verteidiger Justizangestellte P. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
-2- für Re c h t erkannt: 1. Der Angeklagte Michael ….. F. aus Heidelberg wird f r e i g e s p r o c h e n.
2. Die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
-3-
Gründe:
I.
Dem Angeklagten lag folgender Sachverhalt zur Last:
1. Er habe am 28.06.1999 gegen 5.00 Uhr in seiner Wohnung ….. insgesamt 128,65 Gramm Marihuana, 73,6 Gramm Haschisch und 23 Joints besessen.
2. weiter habe er am 17.02.2002 gegen 1.30 Uhr ….. vier Joints mit sich geführt, die mit einem Tabak-Marihuana-Gemisch gefüllt gewesen seien. Bei der anschließenden Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten ….. seien sieben weitere Joints mit einem Tabak-Marihuana-Gemisch, vierzehn Hanfstauden mit einer Höhe von jeweils 1,50 m, welche der Angeklagte auf einer Zwischendecke in seinem Wohnzimmer aufgezogen habe, zwei Tütchen mit 30,8 Gramm Marihuana und eine Schüssel mit 28,9 Gramm Marihuana sichergestellt worden. Nach Aberntung der Cannabis- Pflanzen und Trocknung des Pflanzenmaterials habe sich eine Gesamtmenge von Marihuana und Marihuanagemisch von 381,99 Gramm mit insgesamt 12,76 Gramm THC ergeben.
In beiden Fällen sei der Angeklagte, wie er sich bewusst gewesen sei, nicht im Besitz einer ihn hierzu berechtigenden behördlichen Erlaubnis gewesen. Hinsichtlich der Tat Ziffer 1 hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim mit Beschluss vom 21.01.2000 unter dem Aktenzeichen 23 Cs 304 Js 19482/99-AK 48/00 einen Strafbefehl erwirkt,
-4 -
obwohl weder Tatzeit noch Tatort in dem Strafbefehl angegeben waren. Nachdem der Angeklagte gegen diesen Strafbefehl rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte, wurde das Verfahren zu der Strafsache Ziffer 2 hinzuverbunden. In der Hauptverhandlung wurden in entsprechender Anwendung des § 265 StPO die Mängel des Strafbefehls nachträglich behoben.
II.
Die Beweisaufnahme hat das unter I. dargestellte Tatgeschehen in vollem Umfang bestätigt. Der Angeklagte hat den äußeren Sachverhalt umfassend eingeräumt. Im allseitigen Einverständnis wurde auf eine nochmalige Anhörung der an den jeweiligen Tattagen eingeschrittenen Polizeibeamten verzichtet. Ebenso wurden im allseitigen Einverständnis die Gutachten des Dr.habil.Skopp und des Dr.Mir in der Hauptverhandlung verlesen. Angehört wurde in der Hauptverhandlung der Sachverständige Prof.Dr.Meinck von der Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass der Angeklagte tatbestandlich im Sinne der §§ 1 Abs.l, 3 Abs.l Nr.l, 29 Abs.l Nr.3 BtMG (im Fall der Tat Ziffer 1) und §§ 29 Abs.3 Nr.3, 29 a Abs.l Nr.2 BtMG (im Fall der Tat Ziffer 2) gehandelt hat. Er war jedoch gerechtfertigt, § 34 StGB.
Bei der Prüfung des Rechtfertigungsgrundes des Notstandes sind die Wertungen zu berücksichtigen, die sich in den Bestimmungen des BtMG über die Verkehrsfähigkeit über Betäubungsmittel niedergeschlagen haben. Nur wenn die drohende Gefahr für ein schutzbedürftiges Rechtsgut des Angeklagten so exorbitant und atypisch ist, dass sie in die Abwägung der gesetzlichen Spezialregelung nicht eingegangen ist, kann § 34 StGB eingreifen, hierzu auch OLG Köln, 1.Strafsenat, Az: Ss 51/99-23, in einem Verfahren, in dem ein HIV-Patient
-5 -
zur Linderung seiner Beschwerden zu Cannabis gegriffen hatte. Auch im Fall des Angeklagten F. liegt eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leib und Leben vor, bei deren Bekämpfung Mittel angewendet wurden, die nach dem BtMG verboten sind, deren Einsatz aber im insoweit überwiegenden Individualinteresse gerechtfertigt war. Er leidet sowohl an Multipler Sklerose als auch an einer Ataxie.
Das BtMG hat die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zum Ziel und hat zugleich den Missbrauch von Betäubungsmitteln sowie das Bestehen oder Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit auszuschließen. Das bei dem Angeklagten bestehende Krankheitsbild ist jedoch so schwerwie- gend, dass Fischers Individualinteressen bei der anstehenden Güterabwägung ein Übergewicht zukommt. Er leidet an einer anfänglich schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose, die sich 1985 in Form von Sehstörungen manifestierte. Im Jahr 1986 traten dann Taubheitsgefühle des rechten Beines, eine Blaseninkontinenz, eine Sprachstörung sowie Doppelbilder auf. Damals wurde auch anhand einer Kernspintomografie sowie einer Liquorzellenuntersuchung die Diagnose einer Multiplen Sklerose gestellt. Der Angeklagte wurde daraufhin mit Cortisoninfusionen behandelt und konnte nach zwei Wochen entlassen werden. Bereits 14 Tage danach kam es zu einer er- neuten Verschlechterung der Symptomatik, jetzt mit Gesichtslähmung rechts und Gehunfähigkeit, sodass F. vorübergehend pflegebedürftig wurde. Nach erneuter Einweisung wurde er vier Monate stationär behandelt, wobei im Anschluss für ca. sechs Wochen eine Heilbehandlung in der Reichenbad-Klinik in Weilbronn durchgeführt wurde. Die Restsymptomatik mit Geh-, Sprech- und Sehstörungen bildete sich über ca. ein Jahr langsam zurück. Fischer wurde zur Prophylaxe weiterer Schübe auf das Medikament Azathioprin eingestellt, wobei er diese langfristig angelegte Behandlung jedoch bereits nach zwei bis drei Monaten abbrach und seither nur noch Vitamine, Mineralien und seit 1987 Cannabis einnimmt. Eigenen Angaben
-6 –
zufolge erlitt der Angeklagte ca. zwei Schübe pro Jahr, die jeweils ambulant mit Cortisoninfusionen behandelt wurden. Weiter erhielt er regelmaßig krankengymnastische sowie logopadische Behandlungen. In den Jahren 1990 und 1993 wurde er jeweils über vier bis sechs Wochen in der Rehaklinik Karlsbad-Langensteinbach behandelt. Der letzte Schub ist vermutlich im Jahr 1995 erfolgt und dann auch mit Cortison behandelt worden. Die Symptomatik wahrend aller Schübe sei jeweils ahnlich gewesen, wobei im Vorder grund Taubheitsgefühl, Schwindel, Zuckungen und Dysarthrie standen. Alle diese Befunde waren unter hochdosierten Cortisongaben rücklaufig. Seit 1995 ist es zu einer Milde- rung des Krankheitsverlaufes gekommen. Seither sind keine Krankheitsschübe mehr aufgetreten. Seit jenem Zeitpunkt ist der Krankheitsverlauf schleichend.
Von 1995 bis heute befindet sich der Angeklagte ca. einmal pro Jahr im Krankenhaus für Multiple Sklerose und anderen Nervenstoffwechselleiden, Klinik Dr.Ewers, Sundern. Nebenbefundlich wurde ein Asthma bronchiale festgestellt. Der letzte Asthmaanfall liegt jedoch ca. 15 Jahre zurück. Weiter besteht eine Allergie gegen Haus- und Milbenstaub. Aktuell leidet der Angeklagte vonseiten seiner Multiplen Sklerose an einer mittelschweren Residualsymptomatik, wobei insbesondere Koordinationsstörungen im Sinne einer Ataxie auffallen, die im Wesentlichen die Fein-, die Grobmotorik sowie den freien Gang, den Stand und die Sprache beeinträchtigen. Subjektiv leidet der Angeklagte unter generalisiertem Muskelschmerzsyndrom , einer depressiven Verstimmung sowie einer einschießenden Spastik. Für diese sekundar-progrediente Verlaufsform der Multiplen Sklerose des Angeklagten, d.h. eine Erkrankung, die nach zunächst schubförmigem Verlauf dann mit schleichender Verschlechterung der klinischen Symptomatik fortschreitet, können nach dem derzeitigen Stand der Forschung Interferone verordnet werden. Wegen der damit verbundenen Nebenwirkungen hat der Angeklagte darauf bislang verzichtet. Auch im Übrigen gibt es eine ganze Reihe von Therapieempfehlungen zur Behandlung seiner Sekundärleiden. Bei Patienten mit gesicherter sekundär- progredienter Mulitple Sklerose mit nur geringer Behinderungszunahme in den letzten Jahren bzw. fehlenden Schüben oder fehlender Krankheitsaktivitat können nach den Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Neurologie keine wissenschaftlich gesicherten Therapieempfehlungen gegeben werden.
Der Angeklagte leidet darüber hinaus objektiv, d.h. medizinisch verifiziert, an einer Ataxie mit Störung der Grob- und der Feinmotorik, des freien Gangs und des Standes sowie der Sprache.
In der in der gleichen Sache bereits am 15.05.2003 unter Vorsitz des Richters am Amtsgericht Bauer durchgeführten Verhandlung konnte der damals vorsitzende Richter unterhalb des Jochbeines eine ca. 4 cm lange frische tiefe Wunde feststellen, die von einem aktuell erlittenen Sturz herrührte. Das Gericht hat sich in der Hauptverhandlung durch Vernehmung des Angeklagten, aber auch durch die Vernehmung seiner Lebensgefahrtin, ….., überzeugen können, dass dieser unmittelbar vor der damaligen Hauptverhandlung erlittene Sturz eindeutig auf die Auswirkungen der Ataxie zurückzuführen ist. Die Zeugin hat glaubhaft angegeben, dass der Angeklagte an diesem Tage sozusagen über seine eigenen Füße gestolpert sei, er sei am Teppichrand in der Wohnung hangen geblieben. Hierbei habe es sich um die Auswirkung der typischen Ataxiesymptome gehandelt.
In Anwesenheit des Sachverständigen Prof.Dr.Meinck hat die Zeugin diese Schilderungen sehr nachvollziehbar und glaubhaft abgegeben. Der Sachverständige selbst konnte sich davon überzeugen, dass die Schilderung der Zeugin auch nach medizinischem Sachstand völlig nachvollziehbar war. Es gibt nicht den geringsten Grund, dass die Zeugin hier eine fal-
-8 –
sche Version über die Kausalität des Sturzes abgegeben haben könnte. Die Zeugin gab weiterhin an, dass der Angeklagte regelmäßig pro Stunde etwa einen Joint raucht, auch noch zum jetzigen Zeitpunkt. Dies wurde vom Angeklagten ausdrücklich bestätigt. Wie die Zeugin ebenfalls in Gegenwart des Sachverständigen überzeugend und nachvollziehbar angab, gab es in zurückliegender jüngster Vergangenheit immer wieder Situationen, wo der Angeklagte nicht über die tägliche Haschischmenge verfügte, die ihm das stündliche Rauchen eines Joints ermöglichte. In diesen Situationen der verminderten Haschischzufuhr kam es regelmäßig vor, dass die Auswirkungen der Krämpfe ataxiebedingt bei dem Angeklagten geradezu dramatisch waren. So hat die Zeugin sehr anschaulich und überzeugend geschildert, wie der Angeklagte ohne den gewohnten Konsum von Cannabis starke Krämpfe hatte, dass er sich auf der Couch nahezu versteifte. Sein ganzer Körper habe sich nach hinten gebeugt, es sei ihr nur mit großen Schwierigkeiten gelungen, die Verkrampfung des Körpers bei dem Angeklagten wieder zu lösen. Auch sei der Angeklagte ohne die regelmäßige Zufuhr von Cannabis immer wieder in die Situation gekommen, dass er, wegen erheblicher Störung seiner Motorik, Tassen, die er nicht mehr ohne Krampferscheinungen berühren konnte, zertrümmerte. Auch sei er des Öfteren schon gestürzt, da er aufgrund seiner Störung der Motorik gerade an engen Stellen sehr große Schwierigkeiten habe, seine Beine zu koordinieren. Alle diese Erscheinungen hätten sich bei verstärktem Konsum von Cannabis auf ein erträgliches Maß zurückführen lassen.
Bereits diese sehr nachvollziehbaren und glaubhaften Angaben der Zeugin beweisen, dass der Angeklagte durch den Konsum von Cannabis seine sonst aufgrund der Ataxie bedingten unerträglichen Lebensumstände auf ein erträgliches Maß zurückführen kann.
-9 -
Es gibt laut den glaubhaften Angaben des Sachverständigen Prof.Dr.Meinck weder eine kausale noch eine symptomatische medikamentöse Therapieempfehlung für die Behandlung von Ataxie. Lediglich zur Vermeidung von Sekundärfolgen und zur Verbesserung funktioneller Einschränkung kann Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage zur Basisversorgung verordnet werden. Diese Maßnahmen wurden bei dem Angeklagten in ausreichendem Maße u.a. wegen der regelmäßigen Klinikaufenthalte in der MS-Klinik des Dr.Ewers durchgeführt. Spätestens dort hat der Angeklagte auch über Mitpatienten erfahren, dass es Fallbeispiele gibt, bei denen Cannabis bzw. seine Derivate bei Symptomen der Spastik und der Ataxie hilfreich und lindernd sein können. Wie sich aus dem in der Hauptverhandlung verlesenen Gutachten des Herrn Dr.Mir ergibt, wurde zwar von Dr.Mir dem Angeklagten nicht ausdrücklich zu dem Konsum von illegalen Cannabisprodukten geraten. Dem Patienten wurde aber auch in diesem Gutachten nicht vorenthalten, dass es für die Behandlung der Ataxie, d.h. dieser Störung der Grob- und Feinmotorik, der Gehfahigkeit und des Sprach- und Sehvermögens, keine zugelassenen Therapiealternativen gibt. Genau zu demselben Ergebnis kam der in der Hauptverhandlung gehörte Sachverständige Prof.Dr.Meinck von der Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg. Auf ausdrückliche Frage des Verteidigers hat Prof.Dr.Meinck in der Hauptverhandlung zu verstehen gegeben, dass er zwar aus juristischen Gründen dem Angeklagten niemals zum Konsum von Cannabisprodukten raten würde, dass er es aber aus menschlicher und medizinischer Sicht nachvollziehen könne, wenn der Angeklagte zu diesen Cannabisprodukten greift, da ihm andere Mittel keine Linderung verschaffen können. Zwar wird in Deutschland von der Bock-Apotheke in Frankfurt unter der Bezeichnung Dronabinol ein Mittel hergestellt, welches eine synthetisch hergestellte THC-Gewinnung direkt aus der Cannabispflanze enthält. Diese Verordnung erfolgt jedoch ausschließlich auf Privatrezept. Am 03.05.2002 kosteten 20 ml dieser 2 %-igen Lösung 545,87 Euro. In Ermangelung
-10 -
anderer Behandlungsalternativen wurde dem Angeklagten von Dr.Mir in der Vergangenheit einmal dieses Dronabinol verordnet. F. konnte bei Einnahme dieses Mittels auch einen durchaus lindernden Erfolg bei sich feststellen. Allerdings gab er an, dass die Einnahme von Dronabinol alleine nicht dieselbe Linderung verschafft hätte, wie die direkte Einnahme von Marihuana. Zu diesem Thema gab der Sachverständige Prof.Dr.Meinck in der Hauptverhandlung an, dass dies nachvollziehbar und aus medizinischer Sicht auch verständlich sei. Denn in Dronabinol befinde sich der reine Wirkstoff THC, wogegen bei der Einnahme von Cannabis andere pflanzliche Faktoren bei der Linderung eine Rolle spielen könnten, die allerdings in ihrer Zusammensetzung wissenschaftlich und medizinisch noch nicht erforscht seien. Dies wurde wiederum belegt durch die glaubhafte Aussage der Lebensgefährtin der Angeklagten, die dem Gericht nachvollziehbar und überzeugend geschildert hat, dass der Angeklagte in der Zeit, in der er reines Dronabinol eingenommen hat, jeweils noch geringe Mengen Cannabis dazugenommen hat, um die geschilderten untragbaren Folgeerscheinungen der Ataxie noch weiter zu lindern. Die Krankenkasse, die AOK Mannheim, hat sich jedoch geweigert, die sehr hohen Kosten für dieses Präparat zu übernehmen. Eine Klage beim Sozial- und Landessozialgericht Baden- württemberg war anhängig, diese wurde jedoch vor kurzem abschlägig verbeschieden. Der in der Zwischenzeit berentete und im Übrigen vermögenslose Angeklagte ist wirtschaftlich nicht in der Lage, sich auf eigene Kosten Dronabinol in ausreichender Menge über Privatverordnung seiner Ärzte zu beschaffen. Zweifellos ist bei dem Angeklagten wegen seines regelmäßigen Konsums seit dem Jahr 1987 von einer psychischen Cannabisabhängigkeit auszugehen. Andererseits stehen wirksa- me Therapiemöglichkeiten zur Bekämpfung seiner Ataxie nicht zur Verfügung. Auch wenn die Symptome seiner Spastik, Depressionen und Schmerzen bislang noch nicht abschließend abgeklärt sind und in diesem Bereich noch reichlich therapeutische Optionen vorliegen, so ist nach den überzeugenden Ausführungen des weiteren Sachverständigen, Prof.Dr.Meinck, Neurologische Universitätsklinik Heidelberg, aus medizinischer Sicht gegen einen individuellen Heilversuch zur Behandlung der Ataxie mit Cannabisderivaten aus mehrfacher Sicht nichts einzuwenden. Zum einen gibt es für dieses Symptom keine anderen zugelassenen und erwiesenermaßen wirksamen Behandlungsoptionen, weiter liegen nach wissen- I schaftlichem Kenntnisstand Befunde vor, die die Wirksamkeit von Cannabis auf die Ataxie in einzelnen Fällen belegen. Außerdem hat der Angeklagte in der Vergangenheit offenbar positive Erfahrungen mit Cannabis gemacht. F….. hat in der Vergangenheit alles Zumutbare unternommen, um an das zugelassene Medikament Dronabinol zu kommen. Das Präparat wurde ihm zwar verordnet, seine Krankenkasse hat jedoch die Kostenübernahme berechtigterweise abgelehnt, weil es der Versichertengemeinschaft nicht zugemutet werden kann, ein noch nicht für diesen Anwendungsbereich freigegebenes Arzneimittel bezahlen zu müssen. Seine Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln ist schon mehrere Jahre anhängig. Zur Behandlung seiner Ataxie stehen keine Medikamente zur Verfügung. Die durch die Ataxie hervorgerufene Einschränkung sowohl der Grob- als auch der Feinmotorik belastet den Angeklagten zu- ~ tiefst.
Herr Prof.Dr.Meinck hat als Sachverständiger auf ausdrückliche Fragen angegeben, dass die Wirkung von Cannabis auf eine MS-bedingte Ataxie wissenschaftlich in keiner Weise erforscht sei. Es gäbe in der Literatur eine Reihe von Schilderungen von Fällen, in denen die Einnahme von Cannabis überhaupt nichts Linderndes bewirken konnte, ebenso groß ist jedoch die Anzahl der Fälle, in denen aus medizinischer
-12 -
Sicht eine sehr eindrucksvolle Linderung geschildert wird. Der Sachverständige, der jedoch bei der Einvernahme der Zeugin G. anwesend war, zeigte sich beeindruckt von den nachvollziehbaren und glaubhaften Schilderungen der Zeugin G. über die Wirkung von Cannabis im konkreten Falle des Angeklagten. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass es im vorliegenden Falle für ihn absolut nachvollziehbar sei, dass mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Einnahme von Cannabis die erhoffte Linderung bei dem Angeklagten hervorrufen konnte, die sonst durch keine anderen geeigneten Maßnahmen erzielt werde. Mit der einem Wissenschaftler gebotenen Zurückhaltung beantwortete der Sachverständige letztlich die Frage nach der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der in vorliegendem Fall die Einnahme von Cannabis eine lindernde Wirkung bei dem Angeklagten erzeuge, mit 30 %.
Nach der Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Fall muss jedoch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Einnahme von Cannabis die erhoffte lindernde Wirkung bei dem Angeklagten eingetreten ist. Hieran kann nach der Schilderung der Zeugin G. nicht mehr der geringste Zweifel bestehen. Beachtet man weiter die Aussage des Sachverständigen, dass in der Literatur zahlreiche Fälle geschildert werden, in denen die Einnahme von Cannabis einen durchschlagenden Linderungserfolg erzielt, so gehört offenbar der Fall des Angeklagten zu den in der Literatur geschilderten Fällen mit positiver Wirkung.
Der Angeklagte hat glaubhaft angegeben, und dies wurde durch die Aussage der Zeugin G. untermauert, dass er jede Stunde einen Joint rauchen muss, um die erhoffte lindernde Wirkung zu erzielen.
-13-
Dies war auch für den Sachverständigen nachvollziehbar. Un- ter Zugrundelegung der in dem zweiten Fall bei dem Angeklagten sichergestellten Menge errechnete der Sachverständige eine Vorratshaltung von etwa 800 Konsumeinheiten.
Unter Zugrundelegung dieser in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse steht nunmehr mit Sicherheit fest, dass im vorliegenden Falle zugunsten des Angeklagten die Voraus- setzungen des § 34 StGB vorliegen. Bereits das Oberlandesgericht hat in seinem Urteil vom 24. Juni 2004 mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass beim Umgang mit Betäubungsmitteln, die zur Abwendung schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen konsumiert werden, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Frage kommt. Die in dem zitierten Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 15.05.2003 getroffenen Feststellungen, dass im vorliegenden Fall eine für ein anerkanntes Rechtsgut bestehende gegenwärtige Gefahrenlage im Sinne des § 34 StGB vorliegt, hat das Oberlandesgericht ausdrücklich als rechtsfehlerfrei erachtet. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts liegt in dem mangels anerkannten Therapiemöglichkeiten drohenden Fortbestand der Gesundheitsbeeinträchtigung eine gegenwärtige Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten. Soweit das Oberlandesgericht in diesem Urteil Aufklärungsrügen hat gelten lassen, sind diese nunmehr durch die nochmalige Hauptverhandlung ohne jeden geringsten Zweifel beseitigt. Das Oberlandesgericht hat insoweit darauf abgestellt, dass die drohende Schädigung des Erhaltungsgutes so schwerwiegend sein kann, dass der Eingriff in fremde Interessen auch zur Wahrnehmung unsicherer Rettungschancen rechtlich erlaubt sein muss. Es reiche aus, dass die erfolgreiche Abwendung des drohenden Schadens nicht ganz unwahrscheinlich ist.
-14 -
Dies wurde nunmehr in der Hauptverhandlung, wie dargestellt, ohne jeden Zweifel festgestellt. Nunmehr lässt sich ohne jeden Zweifel ganz sicher beurteilen, dass der Cannabiskonsum beim Angeklagten zu einer mehr als nur unwesentlichen Ver- besserung seiner Koordinationsstörungen geführt hat.
Auch die Tatsache, dass der Sturz unmittelbar vor der im letzten Jahr durchgeführten Hauptverhandlung ataxiebedingt war, ist nunmehr zweifelsfrei festgestellt.
Das Oberlandesgericht hat weiter darauf abgestellt, dass nach § 34 StGB nur der Besitz von Cannabis in dem Umfang gerechtfertigt sein kann, der für den Konsum zur Linderung der Gesundheitsbeeinträchtigung erforderlich ist.
Hierzu hat das Gericht eindeutig festgestellt, dass die bei dem Angeklagten im zweiten Falle vorgefundenen Betäubungsmittel, und dies muss erst recht für die im ersten Fall vorgefundenen Betäubungsmittel gelten, für eine Vorratshaltung von etwa 80 Tagen ausreichend waren, berücksichtigt man das glaubhafte und unwiderlegte Vorbringen des Angeklagten, dass er täglich jede Stunde einen Joint raucht, also pro Tag ca. zehn Konsumeinheiten verbraucht.
Insoweit hat der Angeklagte, der immerhin sich von der Drogenszene fern gehalten hat und deshalb zu dem Mittel des Eigenanbaus von Cannabis gegriffen hat, sich einen Vorrat geschaffen, der mit der Vorratshaltung für ein zugelassenes Medikament vergleichbar ist. Die Hauptverhandlung hat auch nicht den geringsten Hinweis dafür ergeben, dass der Angeklagte von dieser Vorratshaltung auch nur ein Gramm an andere Personen abgegeben hat. Bei dem Anbau von Cannabis ist zu beachten, dass es bis zur Reife des Cannabis einer gewissen Zeit bedarf und dass der Erfolg des Anbaus bezüglich einer brauchbaren Ernte nicht vorherzusehen ist.
-15 -
Wenn der Angeklagte eine Menge angebaut hat, die für eine Vorratshaltung von etwa knapp drei Monaten dauert, so ist dies rechtlich in keiner Weise zu beanstanden. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Strafantrag darauf abgestellt, dass für die Anwendung des § 34 StGB deshalb kein Platz sei, da die Vorratsmenge zu hoch gewesen sei. Dieser Argumentation kann das Gericht nicht folgen. Erstens hat die Staatsanwaltschaft es vermissen lassen, eine Mengenvorgabe zu geben, die rechtlich noch erlaubt sei. Zweitens hat die Staatsanwaltschaft den Besitz als solchen unter die Rechtfertigungsnorm des § 34 StGB subsumiert. Dies würde jedoch bedeuten, dass er, wenn der Angeklagte etwa aufgrund von § 34 StGB eine Wochenvorratsdosis vorrätig haben dürfte, jede Woche rechtlich nicht zu beanstanden, neues Marihuana, etwa auf der Drogenszene in Mannheim, sich verschaffen müsste, um die rechtlich nicht zu beanstandende Linderungswirkung durch Cannabis in seinem Körper zu erzielen. Wie dies zu bewältigen sei, konnte die Staatsanwaltschaft auch auf Nachfrage durch den Vorsitzenden nicht näher erörtern.
Das Gericht hat daher den Angeklagten aufgrund Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes nach § 34 StGB so behandelt, als handele es sich in seiner Person bei der Einnahme von Cannabis um ein ordnungsgemäß zugelassenes Medikament. Wie der Vorsitzende aus eigener Erfahrung weiß, werden jedoch schmerzlindernde oder sonstige heilende Medikamente auch im Rahmen einer normalen Rezeptur für einen Durchschnittszeitraum von mindestens drei Monaten verschrieben. Wenn die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussplädoyer darauf abgestellt hat, dass bei einer größeren Vorratshaltung die Gefahr bestehe, dass etwa bei Einbrüchen das Cannabis in falsche Hände käme, kann das Gericht dem nur damit entgegnen, dass die Gefahr des Missbrauchs bei ordnungsgemäß verschriebenen Medikamenten mit hohen Nebenrisiken genauso hoch oder niedrig einzustufen ist.
-16 -
Nach alledem muss festgestellt werden, dass für die im gesamten von dem Angeklagten besessenen und durch Anbau von Cannabis gewonnenen Mengen unter dem Gesichtspunkt des § 34 StGB gerechtfertigt sind und der Angeklagte daher für den Besitz dieser Mengen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.
Das Gericht, das sich in der Hauptverhandlung selbst einen Eindruck von dem trotz Einnahme von Cannabis erbarmungswerten Zustand des Angeklagten machen konnte, hofft nunmehr, dass der Angeklagte seinen durch die Krankheit eingetretenen Schicksalsschlag besser verkraften werden wird, indem man ihn nunmehr, nachdem feststeht, dass er sich nicht strafbar gemacht hat, seitens der Behörden und Gerichte in Ruhe seinen weiteren -nunmehr legalen- Cannabiskonsum gönnen wird. Dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass, wie in der Vergangenheit schon, mit diesem Cannabiskonsum kein Missbrauch getrieben wird und dass der Cannabiskonsum, wie bisher schon, auch in Zukunft ausschließlich zur Linderung der geschilderten Ataxiefolgen benutzt werden wird. Sollten sich in der medizinischen Wissenschaft alsbald Fortschritte ergeben, die es dem Angeklagten ermöglichen, durch zugelassene Medikamente eine wesentliche Linderung seiner festgestellten Leiden zu erzielen, wären die in vorliegendem Fall festgestellten Rechtfertigungskriterien neu zu überdenken.
Krehbiel
Ausgefertigt:
der Urkundsbeamte I .... Justizangestellte
|